„Dekolonisierung des Denkens“
Mit der Veranstaltungsreihe „Dekolonisierung des Denkens“ prüft der Verein Afrikanische Perspektiven e.V. diesen Blick, um ein differenziertes und realitätsnahes Afrika-Bild zu vermitteln und so zu respektvollen Begegnungen zwischen Menschen beider Kontinente beizutragen. In Vorträgen, Lesungen und Diskussionen werden verschiedene Aspekte der Dekolonisierung betrachtet. Neben wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten wird insbesondere die Emanzipation von europäischen Denkweisen thematisiert. Das ist auch ein Beitrag zur Internationalen Dekade der Vereinten Nationen für Menschen afrikanischer Herkunft. Mit dem Titel „Dekolonisierung des Denkens“ beziehen wir uns auch auf die Essaysammlung des kenianischen Schriftstellers Ngugi wa Thiong’o (Unrast Verlag, Münster, 2017).
Förderung Die Durchführung der Veranstaltungsreihe ist möglich durch die freundliche Förderung der Stiftung für Umwelt und Entwicklung NRW, des Kulturamtes der Stadt Münster, des Peter Hammer Vereins für Literatur und Dialog e. V. und des Integrationsrates der Stadt Münster. Sie findet statt in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Münster, dem BiPoC-Referat des AStA und den Postcolonial, Transnational and Transcultural Studies des Englischen Seminars der Universität Münster, dem Franz-Hitze-Haus und dem Eine-Welt-Forum Münster e.V.
Decolonize Yourself
mit Ania Faas und Zandile Darko
Die Journalistin Ania Faas und die Theatermacherin Zandile Darko berichteten von ihrem Projekt „Decolonize Yourself“ in Hamburg, das Schüler*innen eine Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus ermöglicht. Sie sind der Auffassung, dass die beiden Begriffe zusammengehören: Kolonialismus wäre ohne Rassismus als moralische (Schein-)Legitimierung nicht möglich. Die Kenntnis dieses kolonialen Hintergrundes ist Faas und Darko als Basis für die Arbeit gegen Rassismus wichtig. Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und all seinen dunklen Seiten nehme nach ihren Beobachtungen in den Lehrplänen Hamburger Schulen einen zu geringen Raum ein. Darko sieht in der Performance einen dekolonialen Ansatz des Lernens. Die Arbeit mit dem Körper sei ein wichtiges Konzept in der Auseinandersetzung mit rassistischen Erfahrungen und des Empowerments.
Lassen sich die Erfahrungen aus den Workshops mit Schüler*innen auf Erwachsene übertragen? Da sind Faas und Darko eher skeptisch, weil Schüler*innen – anders als Erwachsene – noch offen für Veränderungen seien.
Foto: Ania Faas und Zandile Darko (Fotografin: Christiana Diallo-Morick)
Literatur: Grada Kilomba: Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism, Unrast-Verlag, Münster, 2010
Pisten – Spuren in Namibia
Lesung und Gespräch mit Penda Diouf
„Erinnerst du dich an die Dünen? Erinnerst du dich an die Dünen Namibias? Erinnerst du dich an die Dünen Namibias und an das Beben des Sandes an ihren Flanken? An die Melodie ihrer Flanken? Es ist das tränenlose Weinen der Sandkörner.“ Diesen poetischen und politischen Text las die Schauspielerin Gifty C. Wiafe auf Deutsch im Wechsel mit der Autorin Penda Diouf, die aus ihrer französischen Fassung vortrug.
In dem Stück „Pisten“ verwebt die Autorin und Schauspielerin ihre eigene Geschichte mit Eindrücken einer Reise nach Namibia. Sie beschreibt eindringlich die Dünenlandschaft der Namib-Wüste, die Grausamkeit des Völkermordes an den Herero und Nama, den deutsche Kolonialherren dort begingen und der als erster Genozid des 20.Jahrhunderts gilt. Diouf gibt auch dem Widerstand Raum: Hendrik Witbooi, Oberhaupt der Nama, der dazu aufrief, sich nicht „der Regierung der Weißen“ zu unterwerfen, und Samuel Maharero, Oberhaupt der Herero, der nach anfänglicher Zusammenarbeit mit den Deutschen gegen deren Kolonialherrschaft kämpfte. Diese Erzählstücke verbindet Diouf wie in einer „Näharbeit“ mit ihren rassistischen Erfahrungen im Frankreich ihrer Kindheit und Jugend. Das Zusammenfügen der Stücke ist schmerzhaft: „BEI JEDEM NADELSTICH FLIESST EINE TRÄNE BLUT“.
Foto: Penda Diouf und Gifty C. Wiafe (Fotografin: Bärbel Maessen)
Hinweis: „Pisten“, Hörspiel von Penda Diouf, übersetzt aus dem Französischen von Annette Bühler-Dietrich, Produktion NDR 2022, Sprecherin Abak Safaei-Rad, Regie Christine Nagel.
Das Hörspiel wurde „Hörspiel des Jahres 2022“.
https://www.ndr.de/kultur/epg/Hoerspiel-des-Jahres-Pisten,sendung1259910.html
Die Afrika-Berichterstattung der „Tagesschau“ von 1952–2018
mit Dr. Fabian Sickenberger
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Mit diesem Zitat des Soziologen Niklas Luhmann eröffnete der Kommunikationswissenschaftler Fabian Sickenberger seinen Vortrag und erläuterte die Bedeutung von Massenmedien für das Afrikabild. Die „ARD-Tagesschau“ spiele hierbei eine wichtige Rolle, weil sie als verlässliche Informationsquelle gelte und einen großen Personenkreis erreiche. In seiner Dissertation wertete Sickenberger eine umfangreiche Datenmenge unter verschiedenen Aspekten aus. Seine These, dass vom vielfältigen Kontinent Afrika und den Menschen seiner vielen Länder in Deutschland eine homogenisierte Auffassung vorherrsche, die durch die Massenmedien begünstigt werde, fand er im Wesentlichen bestätigt. Die Mannigfaltigkeit der Kulturen und Lebensrealitäten werde zu wenig dargestellt. Themen aus afrikanischen Ländern spielten ohnehin eine vergleichsweise geringe Rolle in der Berichterstattung. Einige Länder wie Madagaskar oder Mauretanien kamen in den untersuchten fast 50 Jahren kein einziges Mal vor. Der Fokus richte sich auf Krisen: „Bad news are good news!“. Noch immer kämen zu wenig Menschen vom afrikanischen Kontinent zu Wort. Ihnen mehr Raum zu geben, sei ein Schritt zu einer Dekolonisierung der Berichterstattung. Seine Ergebnisse diskutierte Sickenberger mit der Journalistin Tina Adomako und dem Publikum.
Foto: Tina Adomako und Fabian Sickenberger (Fotografin: Christiana Diallo-Morick)
Literatur: Fabian Sickenberger: Afrikaperspektiven – Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Tagesschau-Afrikaberichterstattung 1952-2018, Logos-Verlag, Berlin, 2021
Eine togoisch-deutsche Geschichte:
Das Mädchen, das mit Krokodilen spielte
Lesung und Gepräch mit Hermann Schulz
In seinem Roman erzählt Hermann Schulz die Geschichte einer Frau aus der ehemaligen deutschen Kolonie Togo, die im Jahr 1900 in Wuppertal geboren wurde. Ihre Eltern gehörten zu einer sogenannten „Völkerschau“-Truppe. Um dem Kind, mit Namen Therese, die strapaziösen „Tournee“ zu ersparen, gab der Vater es in eine Pflegefamilie. Dort sollte das Mädchen auf der Rückreise nach Togo wieder abgeholt werden, doch dazu kam es nicht. Die Spuren der leiblichen Eltern verlieren sich in den Wirren des Weltkriegs. So bleibt Therese in Deutschland und erlebt die Veränderungen vom Kaiserreich bis zur Nazizeit. Sie wird bei den Diakonissen in Kaiserswerth ausgebildet und später Leiteerin eines Kinderheims in Hamburg. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist sie als Schwarze Frau nicht mehr sicher in Deutschland und ist gezwungen, nach Togo auszuwandern.
Etwa vierzig Jahre später traf Hermann Schulz zufällig in Lomé mit Therese zusammen. Aufgrund ihrer biografischen Fakten schrieb Schulz seinen Roman. Im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Moustapha Diallo berichtete er über seine Begegnung mit Therese und über seine Recherchen. Der Einfluss der sog. „Völkerschauen“ – die es auch im Münsteraner Zoo gab – auf die Wahrnehmung von Menschen aus afrikanischen Ländern wurde diskutiert.
Foto: Hermann Schulz und Moustapha Diallo (Fotografin: Christiana Diallo-Morick)
Literatur: Hermann Schulz: Das Mädchen, das mit Krokodilen spielte, dtv-Verlagsgesellschaft, München, 2021.
Michael Sinder, Ralf J. Günther: Von Landois zum Allwetterzoo: 125 Jahre Zoo in Münster, Schüling Verlag, Münster, 2000
Poesie auf Luganda
Lesung und Gespräch mit Dr. Susan Nalugwa Kiguli
Die Besinnung auf die afrikanischen Sprachen, die von den europäischen Kolonialsprachen verdrängt wurden und werden, hält die ugandische Literaturwissenschaftlerin Susan Nalugwa Kiguli für ein bedeutendes Element der geistigen Dekolonisierung. Sie argumentiert dabei im Sinne des kenianischen Schriftstellers Ngugi wa Thiong’o. Für die Lesung hatte sie neue Gedichte geschrieben, die sie in ihrer Muttersprache Luganda vortrug. Ergänzt wurden sie durch Gedichte aus der Anthologie „Zuhause treibt in der Ferne“. Der ugandische Germanist Dr. Shaban Mayanja, der zurzeit an der Universität Paderborn arbeitet, übersetzte die Gedichte und führte das Gespräch mit Susan Kiguli auf Luganda. Diese Sprache wurde wie auch andere afrikanische Sprachen durch die Kolonisation zurückgedrängt und entwertet. Mayanja und Kiguli ist die Sprache Luganda wichtig, weil sie nicht nur ein Kommunikationsmittel ist, sondern auch Trägerin der Kultur.
Sarah Giese las sehr eindrucksvoll die deutsche Fassung der Gedichte.
Literatur: Susan N. Kiguli: Zuhause treibt in der Ferne, deutsch–englische Gedichtsammlung, Verlag Wunderhorn, Heidelberg, 2012
Ngugi wa Thiong’o: Dekolonisierung des Denkens, Essays, Unrast-Verlag, Münster, 2017
Die Macht der Bilder – Die Folgen der negativen Afrika-Darstellung
mit Dr. M. Moustapha Diallo
Verbreitete negative Darstellungen von „Afrika“ erschweren den Dialog zwischen Deutschland/Europa und Afrika, urteilt der Literaturwissenschaftler und Verleger M. Moustapha Diallo. Bezeichnend für die Sicht auf Afrika sei z.B. die Haltung des deutschen Kolonialisten Carl Peters, der die Auffassung vertrat, dass die Ruinen von Groß-Simbabwe nicht afrikanischen Ursprungs sein könnten. Er suchte deshalb die Baumeister im arabisch geprägten Nahen Osten.
Der Gedanke, dass man etwas von Afrika lernen könne, sei vielen Menschen in Deutschland fremd. Dabei könnte Europa besonders in Bezug auf humanistische Werte von Afrika lernen. Er verwies auf das Primat des Sozialen in afrikanischen Philosophien, auf Solidaritätsstrukturen in afrikanischen Gesellschaften und auf die Multikulturalität. Um das zu sehen, müssten jedoch tradierte Wahrnehmungsmuster und das koloniale Denken überwunden werden.
Literatur: Moustapha Diallo: Visionäre Afrikas, Kaddu-Verlag, 2022 (Neuauflage)
Dekolonisierung des Rechts
mit Karina Theurer
„Ohne rassistische Zuschreibung und kulturelle Abwertung wäre die Kolonisation schwerlich zu begründen gewesen“, so beschrieb Karina Theurer, Juristin und Leiterin des „European Center for Constitutional an Human Rights“, die grundlegende Voraussetzung des europäischen Kolonialismus. Entsprechend sei das internationale Recht den Interessen von Kolonisten angepasst. „Macht“ sei ein wesentlicher Faktor für die Rechtspraxis und Recht immer an einen historischen Kontext gebunden. Die Dekolonisierung des (internationalen) Rechts sei überfällig. Am Beispiel Namibia erläuterte sie, dass es rechtliche Regelungen z.B. für den Landbesitz vor der Kolonisierung durch Deutsche gab und wie sie von den deutschen Machthabern ignoriert wurden. Theurer kritisiert, dass diese Regelungen auch in den heutigen Verhandlungen zum Versöhnungsabkommen zwischen Namibia und Deutschland keine Rolle spielen.
Das internationale Recht habe die Aufgabe, den „Schutz lebenswichtiger Grundbedürfnisse der Menschen“ sicherzustellen. So sei die Auseinandersetzung um den Klimaschutz, die indigene Völker einbeziehe, ein Beispiel für die Dekolonisierung des internationalen Rechts.
Literatur: Karina Theurer und Wolfgang Kaleck (Hrsg.): Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, Nomos Verlag, Baden-Baden, 2020, und Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10557
Interview von Andrea Böhm mit Karina Theurer: https://www.zeit.de/kultur/2023-01/karina-theurer-kolonialismus-namibia-aufarbeitung/komplettansicht
Der gute Deutsche. Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914
mit Christian Bommarius und Jean-Pierre Félix-Eyoum
Am 8. August 1914 wurde Rudolf Manga Bell, König der Duala, unter der deutschen Kolonialherrschaft in Kamerun erhängt. Die Anklage lautete auf Hochverrat, der Beweis wurde nie erbracht.
Auf den Tag genau 107 Jahre später erhellen Jean-Pierre Félix-Eyoum, ein Nachfahre Manga Bells, und der Jurist Christian Bommarius in der Studiobühne Münster die Umstände dieses Justizmordes und fordern von der Bundesregierung die Rehabilitierung Manga Bells. Er wird heute in Kamerun als „Vater des Volkes“ verehrt, in Deutschland ist sein Name fast vergessen, aber das ändert sich.
Kamerun war bis 1918 mehr als dreißig Jahre deutsche Kolonie. Sklavenhandel ist verboten, Sklaverei aber gängige Praxis, die Afrikaner werden ausgebeutet, für sie gilt ein besonderes „Eingeborenenrecht“. Die Kolonialherren enteignen Land, vertreiben die Bewohner, planen eine Hafenstadt für Weiße. Rudolf Manga Bell, der in Deutschland zur Schule gegangen ist, vertraut der deutschen Rechtsprechung, macht Eingaben an die kaiserliche Regierung, damit „die Quälereien des hiesigen ›deutschen Gouvernements‹ an uns … ein Ende nehmen möchten.“ Im Reichstag greifen Abgeordnete der SPD und des Zentrums die Kolonialpolitik an. Doch Manga Bell wird vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Das Verfahren folgte keinen rechtlichen Prinzipien, sondern politischen Absichten, schreibt Christian Bommarius in seinem Buch „Der gute Deutsche. Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914“.
Die Kulturwissenschaftlerin Joyce Noufélé moderierte das Gespräch mit dem Autor Christian Bommarius und dem Großneffen Rudolf Duala Manga Bells, Jean-Pierre Félix-Eyoum. Die Schauspielerin Barbara Kemmler las Auszüge aus dem Buch „Der gute Deutsche“.
Foto: Joyce Noufélé, Christian Bommarius, Jean-Pierre Félix-Eyoum, Barbara Kemmler (Fotografin: Chiara Kucharski)
Literatur: Christian Bommarius „Der gute Deutsche. Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914“, Berenberg-Verlag, Berlin, 2020 (Erstausgabe 2015)
Ergänzende Informationen:
Am 14. April 2021 eröffnete das Museum am Rothenbaum (MARKK) die Ausstellung „Hey Hamburg, kennst Du Duala Manga Bell?“ Hierbei vermittelt das Museum die Biografie Rudolf Duala Manga Bells und seiner Mitstreiter Rudolf Ngoso Din und Maria Mandessi Bell. Die Ausstellung ist bis zum 2. Juli 2023 verlängert worden.
2022 benannten die Städte Aalen (BW), Ulm und Berlin Plätze nach Manga Bell.< Am 20. September 2022 wurde die Petition 139208 „Rehabilitation von Rudolf Duala Manga Bell und Ngoso Din“ an den Deutschen Bundestag eingereicht.